Das majestätische Geweih kommt uns in den Sinn, wenn wir an die anmutigen Rothirsche denken. Von den scheuen Tieren tragen nur die Männchen die Stirnwaffe, und zur Brunftzeit kämpfen sie damit gegen Artgenossen. Rothirsche sind sehr soziale Tiere. Gerade die Rudel der Hirschkühe zeichnen sich durch hohen Zusammenhalt aus. Von älteren, erfahrenen Weibchen lernen die Jungtiere, wie sie zu guten Fressplätzen gelangen und wo es frisches Wasser gibt. Ihre ausgezeichneten Sinne werden hier geschärft.
Merkmale
Rothirsche sind Multitalente. Sie sind nicht nur gute, ausdauernde Läufer, sondern können auch hervorragend springen und schwimmen. Sie vollbringen bis zu 10 Meter weite Sprünge und können auf bis zu 70 Kilometer pro Stunde beschleunigen. Die scheuen Tiere verfügen über ausgezeichnete Sinne. Vor allem das Hören, Sehen und Riechen sind ausgeprägt. So kommt es, dass wir Rothirsche bei dem Versuch, sie zu beobachten, leicht verscheuchen. Doch selbst beim Davongaloppieren erkennen wir sie gut: Am Po haben die Hirschen einen großen weißen oder gelblichen Fleck, den sogenannten Spiegel, und ihre kurzen Schwänze sind oben schwarz und unten weiß gefärbt. Ihren Namen haben die anmutigen Wildtiere ihrem Fell zu verdanken, das in den Sommermonaten kräftig rotbraun schimmert.
Rothirsche sind hierzulande die größten Säugetiere und werden bis zu zwanzig Jahre alt. Die Männchen werden deutlich größer und schwerer als die Weibchen. Vom Kopf bis zum Po messen ausgewachsene Tiere 1,6 bis 2,5 Meter, die Rückenhöhe beträgt zwischen einem und anderthalb Meter. Die Tiere wiegen zwischen 90 und 350 Kilogramm.
Umso älter Hirsche werden, umso schwerer wiegt auch ihr Geweih. Mit jedem Jahr wird es größer und verzweigter und kommt auf bis zu 25 Kilogramm. In Mitteleuropa besteht es aus zwei aus dem Stirnknochen ragenden Stangen, von denen meist bis zu drei Enden abzweigen.
Ein Kunstwerk, das die Männchen im übrigen jedes Jahr neu kreieren. Denn wenn im Spätwinter das Sexualhormon Testosteron auf einen Tiefstand fällt, werfen sie ihr altes Geweih ab. Innerhalb von 140 Tagen, bis Ende August, wächst das neue Geweih, für dessen Knochenbildung viel Kalzium benötigt wird. Im immerwährenden Kreislauf der Natur freuen sich die Kleinsten über die abgeworfenen Geweihstangen. Denn Mäuse und andere Nagetiere profitieren von dem hervorragenden Kalk- und Phosphorlieferanten.
Lebensraum und -weise
Obwohl Rothirsche landläufig als Könige der Wälder bezeichnet werden, lebten sie ursprünglich in offenen Landschaften, durch die sie weite Wanderungen zwischen Sommer- und Wintergebieten machten. Von Haus aus Steppentiere, brauchen sie große ausgedehnte Wälder mit Lichtungen. Aber auch in Gebirgswäldern, Heide- und Moorgebieten fühlen sie sich heimisch. Sie benutzen gern die immer gleichen Wege, die sogenannten Wechsel.
Weibchen und Männchen leben die längste Zeit des Jahres getrennt voneinander. Die männlichen Artgenossen streifen als Einzelgänger umher oder finden sich in kleinen, kameradschaftlichen Gruppen zusammen. Die Weibchen pflegen ein sehr soziales Miteinander. Sie leben im Rudel mit den Jungtieren zusammen, wobei eine ältere Hirschkuh den Part der Anführerin übernimmt.
Ihrer Weisheit ist es zu verdanken, dass die jungen, unerfahrenen Tiere günstige Futter- und Wasserstellen finden und lernen, ihre Sinne für Gefahren zu schärfen. Ältere Rothirschweibchen gelten als besonders wachsam und intelligent. Umso reifer sie werden, umso geschickter sind sie darin, Jägern aus dem Weg zu gehen. Wenn Gefahr droht, kommunizieren Rothirsche durch Bellen, Grunzen und Brummeln.
Der erhabene Erdenbewohner ist ein Überlebenskünstler. Harten Wintern begegnet er, indem er seine Körpertemperatur um bis zu 15 Grad senkt. Der Magen des Tiers schrumpft und sein Pulsschlag verlangsamt sich. So spart er lebenswichtige Energie. Die dringende Bitte an uns Menschen, im Winter die Waldwege nicht zu verlassen, wird verständlich. Wenn die Rothirsche zu oft ihren Kreislauf ankurbeln müssen, um vor uns zu flüchten, können sie im schlimmsten Fall verhungern.
Rothirsche werden erst in der Abenddämmerung aktiv. Das liegt allerdings nur daran, dass die vorsichtigen Tiere stark gejagt wurden und gelernt haben, dem Menschen aus dem Weg zu gehen. Biologisch gesehen wären die Hirsche auch tagsüber aktiv.
Nahrung - Paten der Pflanzenvielfalt
Rothirsche sind Vegetarier und ernähren sich hauptsächlich von Gräsern und Blättern von Bäumen. Ebenso stehen Kräuter, Pilze, Eicheln, Flechten, Beeren und andere Früchte auf dem Speiseplan der Säugetiere. Zum Ärger von manch einem verschmähen sie saftige junge Baumtriebe und Baumrinde nicht. Der ökologische Schaden, den die Tiere zum Beispiel in naturfernen Fichtenmonokulturen verursachen, ist aber eher gering.
Es lohnt sich hingegen, den Blick auf einen weniger bekannten und für das Ökosystem sehr nützlichen Aspekt zu richten. Auf seinen ausgedehnten Wanderungen, die gut und gerne 40 Kilometer pro Tag betragen können, gelingt es dem Rothirschen, eine Vielzahl von Pflanzensamen zu verbreiten. Diese trägt er zum einen Huckepack: Kletten klammern sich im Fell der Hirsche fest – fallen sie auf fruchtbaren Boden, entstehen neue Pflanzen. Zum anderen enthält der Kot der Tiere eine Vielzahl von Pflanzensamen. Aus einer Stuhlprobe wuchsen in Nährlösung im Labor rund 100 verschiedene Arten, vom Ziegenmelder über die Gelbbauchunke bis zum Gewöhnlichen Hirschsprung.
Der Rothirsch leistet somit einen wichtigen Beitrag, um Lebensräume zu erhalten und seltene Pflanzen vor dem Aussterben zu bewahren. Das Wander- und Fressverhalten ist ein wichtiger Baustein für Offenlandbiotope, wo Hirsche ihren Lebensraum aktiv gestalten.
Fortpflanzung
Röhrende Raufbolde
Im Herbst werden aus Kameraden Konkurrenten. Dann beginnt die Brunftzeit, während der die Herren um die Gunst der Damen werben. Die Hirsche haben das Frühjahr und den Sommer genutzt und sich in der sogenannten Feistzeit gestärkt. Sie haben Fettreserven für den kräftezehrenden Kampf um die schönen Hirschkühe gebildet.
Lautes Röhren ertönt, wenn die Hirsche im September und Oktober ihren mächtigen Brustkorb als Resonanzraum nutzen, um das Revier zu markieren und Weibchen anzulocken. Im Imponierschritt präsentieren sie ihr stattliches Geweih und zeigen einander die Breitseite, um sich gegenseitig einzuschüchtern.
Bei vielen schwächeren Gegnern siegt die Vernunft: sie spüren ihre Unterlegenheit und fliehen. Nur wenn beide Gegner auf dem traditionellen Brunftplatz bleiben, kommt es zum imposanten Kampf. Dann prallen die Tiere frontal mit dem Geweih aufeinander. Dennoch führen die Rivalitäten nur sehr selten zum Tod.
Liebesangelegenheiten sind kräftezehrend, und so können die männlichen Rothirsche während der Brunft bis zu 20 Prozent ihres Gewichts verlieren. Sie fressen kaum noch, haben viel Stress und reiben sich in Konkurrenzkämpfen auf. Es geht schließlich um alles oder nichts: der überlegene Platzhirsch paart sich mit den Kühen des Rudels, während die Verlierer leer ausgehen.
Hirschkuh mit Herz
Beim Liebesritual wühlen die männlichen Rothirsche mit den Vorderläufen Erdkuhlen auf. In diese urinieren sie und wälzen sich darin. Mit ihrem unwiderstehlichen Duft aus Exkrementen und anderen Sekreten locken sie ihre weiblichen Artgenossen an. Was Hirschkühe anziehend finden, ist, nun ja: Geschmackssache.
Ist die Liebesbindung gelungen, bleibt die Hirschkuh acht Monate lang trächtig. Das Neugeborene – meistens ist es lediglich eins – kann zwar schon nach ein paar Stunden auf dieser Welt auf wackeligen Beinen stehen. Doch es wird circa zehn Monate lang Milch trinken und auch danach noch auf die Führung des Muttertiers angewiesen sein. Die Bindung des Rotkalbs zu seiner Mutter ist sehr stark, weshalb der Muttertierschutz enorm wichtig ist.
Bei Mama fühlen sich die Jungtiere ausgesprochen wohl. Die größeren Geschwister müssen zugunsten des Neugeborenen kurz von der Seite der Mutter weichen, kehren aber nicht selten bald in ihre Nähe zurück. Junge Hirschkühe bleiben beim Rudel der Mutter, und die Männchen verlassen dieses erst mit zwei Jahren.
Leider hat Deutschland lange Jagdzeiten, und mancherorts darf der Rothirsch sogar während der Nacht gejagt werden. Immer wieder kommt es so zu Verwechslungen und Mütter werden ihren Jungtieren gewaltsam entrissen. Kälber ohne Muttertier werden recht sicher aus dem Rudel ausgestoßen und verlieren ihren gesamten sozialen Verband, die Sicherheit und Geborgenheit und den Zugang zu guten Fressplätzen. Ein verwaistes Hirschkalb in schlechtem Zustand ist ein trauriger Anblick.
Gefährdung und Geschichte
Der Rothirsch ist umgeben von Mystik und Magie. Vom mütterlichen Schutz erzählt das Nibelungenlied, in dem Siegfried von einer Hirschkuh gesäugt wird, bevor er vom Schmied Mime aufgenommen wird. In Ostasien steht der Hirsch als Zeichen für die Morgensonne und soll den Menschen Glück bringen. Im chinesischen Buddhismus gilt er als Symbol der Libido.
Leider wurde der Hirsch nicht nur bewundert, er war auch begehrt. Besonders das Geweih des männlichen Rothirschen betrachteten Jäger traditionell als Trophäe, genau so wie die für den Hirschen typischen Eckzähne, auch Grandeln genannt, aus denen Schmuck hergestellt wurde.
Durch intensive Jagd war der Rothirsch Mitte des 19. Jahrhunderts hierzulande beinahe verschwunden.
Heute haben sich die Bestände der Rothirsche glücklicherweise erholt. Dennoch sind die Eingriffe des Menschen einschneidend für seine Existenz. Zu kleine Wildtierbezirke führen zu Inzucht und genetischen Veränderungen. Intensive Land- und Forstwirtschaft setzen die Zerstörung seines Lebensraums fort.
Zu den natürlichen Feinden der Rothirsche gehören Braunbären und die in unsere Heimat zurückkehrenden Wölfe. Die Jungtiere sind durch Luchse, Füchse oder Greifvögel wie den Steinadler bedroht. Dennoch geht die gravierendste Gefahr für den Rothirschen vom Menschen aus.
Heute ist der Rothirsch ein heimlicher Waldbewohner, der auf kleinem Raum genug Nahrung finden muss und so Schäden an Bäumen hinterlässt. Damit er ein aktiver Gestalter unserer Mitwelt wird, sollten wir Grünbrücken entstehen lassen und Lebensräume vernetzen.
Um uns den anmutigen Geschöpfen anzunähern, brauchen wir Geduld und Geschick: so sollte der Wind nie unseren Geruch in ihre Nüstern wehen. Geführte Exkursionen zu Brunftplätzen in der Region finden zum Beispiel im Naturpark Arnsberger Wald statt. Vor allem aber brauchen wir Respekt diesen schönen Tieren gegenüber: Gründe hierfür gibt es genug.